Während in der frühchristlichen, mittelalterlichen und byzantinischen Kunst Gold als Material eine zentrale Rolle spielte, verschwindet es im 15. Jahrhundert aus den Ateliers. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird es von Künstler_innen wiederentdeckt. In Österreich spiegelt die von Thomas Zaunschirm kuratierte Ausstellung „Gold“ im Wiener Belvedere das gesteigerte Interesse. Unter 200 Werken von 125 Künstler_innen finden sich zahlreiche zeitgenössische Positionen – unter anderem von Hermann Staudinger.
Staudingers Werke lassen uns staunen: außergewöhnliche Naturdarstellungen mit alltäglichen, bekannten Motiven, die wir so noch nie gesehen haben. Seine „Goldgrundprägungen“ beginnen mit Fotografien von Pflanzen, Tieren oder Menschen; digital verändert entstehen kontrastreiche Schwarz-Weiß-Bilder, die als Großkopien auf eine blattvergoldete Holzfläche gelegt werden. Anschließend werden alle schwarzen Bildanteile akribisch durchgepaust und schraffierend in die goldene Fläche übertragen. In diesem zarten Relief bricht sich nach Abnahme der Vorlage in den Vertiefungen das Licht. So erscheinen dichte Wälder in flirrenden Lichtstimmungen, die Strahlen der Sonne verfangen sich in der atmosphärischen Flora der Landschaften. Stets sind nur Ausschnitte sichtbar – Stämme, Äste, Blätter, Flechten und moosiger Bewuchs. Die Körperlichkeit der Objekte löst sich auf. Durch die grafische und flächenhafte Struktur entstehen nahezu abstrakte Ausprägungen. Die unerschöpfliche Formenvielfalt der Natur strahlt in andächtiger Stille und die Erscheinungsweise ist unendlich: ändern sich die Lichtreflexionen doch mit jedem Wechsel von Lichteinfall und Betrachter_innen- standpunkt.
Für die Serie „Goldwand“ arbeitet Staudinger mit kleinteiligen quadratischen Mustern, die eine unergründliche Aura ausstrahlen. Auf Leimtränke und Kreidegrund wird der direkte Träger des Blattgoldes, das rote, gelbe oder graublaue Poliment, aufgetragen. Die oberste Werkschicht wird in einem feinen Schleifvorgang abgetragen. Das Gold strahlt nur mehr dort, wo sich die Blätter zuvor überlappt haben. Mit der altmeisterlichen Technik der Polimentvergoldung erschafft der Künstler Werke, deren großzügige Flächen ein holistisches „Eintauchen“ der Betrachter_innen in weite, endlos wirkende Lichträume ermöglicht. Ein Zustand, zu dem wir uns bereitwillig verführen lassen.
Die Ausstellung von Hermann Staudinger ist vom 01. April bis 13. Mai 2023 zu sehen.